EXPERTENINTERVIEW EXPERTENTELEFON \"OSTEOPOROSE\" am 12.05.2011

„Man muss von deutlicher Unterversorgung sprechen"

Experteninterview mit Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel, niedergelassene Orthopädin und Leiterin eines ambulanten osteologischen Schwerpunktzentrums (DVO) in Coburg, und
Prof. Dr. Peyman Hadji, Leiter der Klinik für Gynäkologie, Gynäkologische Endokrinologie und Onkologie an der Philipps-Universität Marburg, zum Thema Osteoporose.

 
 

 

 

 

Osteoporose ist eine Volkskrankheit. Wie viele Betroffene gibt es in Deutschland wirklich?

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  • Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel: In Deutschland sind 7,8 Millionen Menschen von Osteoporose betroffen, aber nur ein kleiner Teil ist sich dessen bewusst. Lediglich 20 Prozent der Betroffenen erhalten eine zeitgemäße und osteoporose-spezifische Therapie, die weitere Brüche verhindert.

Frauen nach den Wechseljahren sollen am häufigsten betroffen sein. Woran liegt das? Gibt es konkrete Zahlen?

  • Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel: In den Wechseljahren kommt es zu einem fast vollständigen Verlust des weiblichen Sexualhormones Östrogen. Dieser Mangel führt besonders in den Jahren nach Eintreten der Wechseljahre zu einem deutlichen Überwiegen der Knochen abbauenden Zellen, so dass die Knochenmasse abnimmt. Jede zweite Frau über 50 hat ein Risiko, an einer Osteoporose zu erkranken.

Warum führt die Erkrankung trotz ihrer Häufigkeit immer noch ein „Schattendasein“ – vor allem, was Diagnostik und Therapie betrifft?

  • Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel: Osteoporose gilt laut WHO als eine der zehn bedeutendsten Erkrankungen der Menschheit. Osteoporose beginnt schleichend und tut nicht weh, so dass die Erkrankung häufig nicht oder zu spät erkannt wird. Inzwischen existieren aber zur Behandlung von Osteoporose hervorragend wirkende Medikamente, mit deren Hilfe bis zu 68 Prozent der Wirbelbrüche verhindert werden können.

Wie lange dauert es, bis ein gesunder Knochen so porös ist, dass er bricht?

  • Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel: Das kann nach den Wechseljahren oder z.B. unter einer Kortisontherapie sehr schnell gehen. In der Regel sind die ersten 10 Jahre nach den Wechseljahren die, in denen die Knochendichte am schnellsten sinkt.

Welchen Einfluss können Ernährung, Sport und Lebensweise auf den Krankheitsverlauf nehmen? Gibt es konkrete Tipps?

  • Dr. Ortrun Stenglein-Gröschel: Ernährung mit viel Calcium, Sport zur Kräftigung der Muskulatur und zur Balance-Förderung sowie viel Bewegung an der frischen Luft helfen mit, den Knochen gesund zu erhalten. Es sind viele Bewegungs- und Nahrungsbroschüren erhältlich, mit detaillierten Anleitungen und Ernährungsplänen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Behandlungssituation ein? Häufig ist von Unterversorgung und falscher Behandlung die Rede.

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  • Prof. Dr. Peyman Hadji: Bundesweit gesehen muss man leider tatsächlich von einer deutlichen Unterversorgung sprechen, was Osteoporose angeht. Das fängt bei der gezielten Diagnostik an und reicht bis zur medikamentösen Therapie. Zum einen wird grundsätzlich viel zu wenig behandelt. Nach wie vor besteht die Therapie in über 80 Prozent der Fälle lediglich aus Schmerzmitteln. Die Krankheitsursachen werden dabei häufig unbeachtet gelassen. Zum anderen werden die verschriebenen Osteoporose-Medikamente nicht – wie eigentlich notwendig – längerfristig zuverlässig eingenommen. Lediglich jede zweite Patientin, die eine spezifische Osteoporosebehandlung erhält, nimmt ihre Medikamente regelmäßig.

Bisphosphonate gelten bis heute als Medikamente der Wahl. Dennoch ist die Therapiesituation unzureichend. Woran liegt das?

  • Prof. Dr. Peyman Hadji: In der Vergangenheit waren die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten bei der Osteoporose nicht sehr umfangreich, so dass sich die Bisphosphonate in relativ kurzer Zeit zum Therapiestandard entwickeln konnten. Bisphosphonate sind bei zuverlässiger Einnahme in der Lage, den Knochen zu stabilisieren und Osteoporose entgegenzuwirken. Aufgrund der Einnahmemodalitäten und häufig auch wegen Verträglichkeitsproblemen nehmen viele Patientinnen ihr verordnetes Bisphosphonat aber nicht zuverlässig über einen ausreichend langen Zeitraum ein.

Welche alternativen Therapiemöglichkeiten stehen inzwischen zur Verfügung?

  • Prof. Dr. Peyman Hadji: Zu den Bisphosphonaten gab es lange Zeit bei einer bestehenden Osteoporose nach der Menopause kaum Behandlungsalternativen. Neben den Östrogenen, die aufgrund unerwünschter Effekte nur nach einer individuellen Nutzen-Risiko-Bewertung zum Einsatz kommen sollten, stehen mit dem SERM Raloxifen sowie Stromtiumranelat weitere wirksame Therapien zur Verfügung. Seit einigen Monaten ist zusätzlich ein Medikament mit dem Wirkstoff Denosumab verfügbar, das einen vollständig anderen Wirkmechanismus aufweist und direkt in die gestörte Knochenbiologie eingreift.

    Der Knochen ist ein vitales Gewebe, das sich in einem ausbalancierten, ständigen Auf- und Abbauprozess befindet. Diese Balance ist bei Osteoporose gestört, so dass der Abbau die Oberhand gewinnt. Der neuartige Wirkstoff hemmt die Zellen (Osteoklasten), die für den Mineralverlust des Knochens verantwortlich sind, und stellt das notwendige Gleichgewicht wieder her. Das Medikament wird als Halbjahresspritze verabreicht und ist gut verträglich.

Kann bei den neuen Therapien auf Vitamin D und Calcium verzichtet werden?

  • Prof. Dr. Peyman Hadji: Auf beides kann auf keinen Fall verzichtet werden. Vitamin D und Calcium braucht der Knochen gewissermaßen als Rohstoff für die Knochen aufbauenden Zellen, die Osteoblasten. Das gilt begleitend zu jeder Osteoporosetherapie.

Wie können Patienten dazu motiviert werden, sich beispielsweise einmal im halben Jahr eine Spritze geben zu lassen – auch wenn sie vermeintlich beschwerdefrei sind?

  • Prof. Dr. Peyman Hadji: Patienten mit Osteoporose sollten ohnehin mindestens zweimal im Jahr ihren Arzt aufsuchen. Wichtig ist natürlich immer die Aufklärung der Patienten über die Osteoporose als „schwelende Gefahr“, die auch bei Beschwerdefreiheit niemals unterschätzt werden darf. Wird die Behandlung abgesetzt, wirkt sie nur noch begrenzte Zeit nach. Das Risiko für weitere Knochenbrüche steigt damit erneut an.
Quelle: deutsche journalisten dienste (djd),
Gesundheitsthemen